Das Seesener Kulturforum e.V. lädt am 23. Februar 2019 zu einer Lesung mit dem satirischen Geschichtensammler Wladimir Kaminer ein. Der Abend beginnt in der ausverkauften Aula im Schulzentrum um 20 Uhr. Es läuft auffällig laute Musik auf dem Weg zu Sitzplatz.
Auf der Bühne nur ein Stehpult und ein Mikro, mehr braucht es für den Abend nicht. Wladimir Kaminer springt motiviert und enthusiastisch auf die Bühne und fragt, warum er denn vier oder fünf Jahre nicht dagewesen sei. Kurz erläutert der Schriftsteller sein eigenes literarisches Schaffen, Familiengeschichten, „Menschen in Bewegung“ im letzten Jahr und nun wohl wieder Familiengeschichten. Kaminer kommt ins Reden und plaudert leicht aus seinem Familienleben, das ihm stets Geschichten für seine Schreiberei liefert. Neben Tochter Nicole, mittlerweile 22 Jahre alte Studentin liefert auch der fast 20jährige Sohn Sebastian amüsante Geschichten. Kaminer plaudert so über den Sohn, „der sich noch sucht, leider zwischen Küche und Fernseher“ in der elterlichen Wohnung in Berlin, als sei das Publikum Familienmitglied. Offen, ehrlich und etwas gemein! Die Problematik der heutigen Jugend fasst der Satiriker süffisant zusammen mit: „erwachsene Menschen, die alles können, aber nichts wollen!“ Das wandelt sich im Alter in den Umstand nichts mehr zu können, aber alles zu wollen. An dieser Stelle bekommt die Mutter Kaminers ihre Anekdote, denn auch sie ist Lieferantin für seine Geschichten des alltäglichen Wahnsinns.
Die Großmutter lädt nicht zum 87. Geburtstag ein, „ich möchte nicht groß feiern, nicht groß kochen, wer kommt, kommt…“ Sie wünscht sich eigentlich nur, dass „die Enkel freiwillig einfach vorbeikommen.“ Wladimir Kaminer macht seiner Mutter klar, dass Enkel ihre Großeltern nicht freiwillig besuchen. Diese wehrt sich klar gegen solche Annahmen, sie kenne da ganz andere Geschichten, nämlich „Rotkäppchen“. Der Schriftsteller versucht nun der Mutter unmissverständlich klar zu machen, dass Rotkäppchen ein Märchen sei und sicherlich das Mädchen nicht freiwillig allein durch den Wald laufen und eine rote Kappe tragen wollte. Schwerwiegender bei der Geschichte ist wohl, dass Rotkäppchen die Großmutter nicht oft besucht habe, denn sie kann sie nicht vom Wolf unterschieden. Kaminers Mutter will die Enkel trotzdem zum Geburtstag sehen. Nicole wird vom Vater überzeugt für die Großmutter Rotkäppchen zu spielen und dafür sogar einen Marmorkuchen mitbringt.
Mit dem charmanten russischen Akzent erzählt der Autor einige Anekdoten frei, andere liest er aus dem Buch, weitere liegen in Kopie parat. Wladimir Kaminer verlässt nun den heimischen Hafen und erzählt von seinem schriftstellerischen Jahr 2018, „Menschen in Bewegung“ als Arbeitstitel für zwei sehr unterschiedliche Bereiche. Flüchtlinge und Touristen unter diesem Begriff zu vereinen, widerstrebt, auch nach Erklärung, bleibt der Schriftsteller hier Einiges schuldig.
In dem Buch „Ausgerechnet Deutschland“ berichtet er über familiäre Bezüge zum Thema Flucht. Sohn Sebastian kümmert sich während der Projektwoche um Flüchtlinge, die in der Turnhalle seiner Schule untergebracht sind. Die Wahl fällt auf die Flüchtlingshilfe, weil das andere Projekt jeden Morgen bereits um 8 Uhr und nicht um 12 Uhr beginnt. Das ist amüsant zu hören, aber nicht gut.
Auch die „Integrationshilfe“ auf dem Dorf in Brandenburg bleibt ohne Tiefe.
Auf Teneriffa beobachtet Kaminer mit seiner Frau die weißen Riesen, die vor den Inseln kreuzen. Das Betrachten der anderen Gäste schildert Kaminer witzig, spritzig und amüsant. Russen mit dicken, breiten Goldketten – Männer wie Frauen sitzen am Strand. Die Russen gehen also nur bis zur Kette ins Wasser, denn sie machen das Schwimmen schwer, so Kaminer, während die Jungen ohne Ketten sind – also frei.
Das Ehepaar Kaminer sitzt wie jeden Tag an der Bar, es werden Eidechsen beobachtet, das macht wenig Mühe. „Wenn Eidechsen zwinkern, geht ein Wunsch in Erfüllung“, so erklärt der Schriftsteller. Es fährt nun ein „weißer Riese“ vorbei, sie können ihn von der Bar aus sehen, als Olga Kaminer sagt: „Die könnten dich einladen!“ Da zwinkert eine kleine Eidechse Wladimir Kaminer zu und zwei Monate später kommt die Einladung zu drei Lesungen auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Die Idee gefällt, rückblickend ist klar, dass es sich um eine 14tägige Lesung handelte.
Griechenland: Landgang, Götter, Geschirr, Steine, Baukräne, Museen, Baustellen, Dreck und Armut. Jeden Morgen eine neue Stadt, viel Alkohol, laute Musik. Die Götter sind wohl weg, sinniert Kaminer. Als Russe wird man auf Mittelmeerkreuzfahrten von Griechen erkannt und angesprochen. Die Schwaben werden nie russisch angesprochen. Sie haben Plastikflaschen gesammelt, wenn sie länger blieben, würden sie das Land wohl in Ordnung bringen.
Landgang mit Besichtigung einer Olivenplantage und traditioneller griechischer Wirtschaft wird durch den Dauerregen aufs Essen reduziert, das in der Wirtschaft einer Sizilianerin von einer Bulgarin zubereitet wird und ein ukrainischer Sirtaki-Tänzer griechisch anmuten lässt. Kaminer arbeitet mit Klischees, manchmal etwas zu viel.
In der Pause signiert der Schriftsteller Bücher und wird von den Zuschauern belagert. Bei einer Wochenkreuzfahrt nach St. Petersburg geht es um die Hässlichkeit des Schiffbauerdammes, die der „Hauptarchitekt des Imperium des Bösen“ grau und hässlich und mit den „schlechten und schiefen Zähnen eines alten Seewolfes“ hatte aussehen lassen wollen. Kaminer verteidigt seine alte Heimat und meint, der „Hauptarchitekt des Imperiums des Bösen schuldet [ihm dafür] ein Bier.“
Das Ehepaar Kaminer hatte kein Visum für Russland und verließ nur kurz das Schiff, um in den Souvenirshop zu gehen. Dort gab es dreierlei Schokolade: Putin bitter, Putin süß und Putin mit Nüssen. Ivan, Nikita und Angelika, die Verkäufer des Shops sehen keine Zukunft für sich, sie wünschen sich, dass wir sie mit nach Berlin nehmen, also kauft der Autor doch Putin-Schokolade.
Als Kreuzfahrer schippert Kaminer durch die Karibik, dort trifft er auf weitere Mitreisende aus Brandenburg, der Alkohol fließt in Strömen, Planungen für Ausflüge werden gemacht. Bisher sind auf der Kreuzfahrt 40000 Liter Bier getrunken worden. Alle jubeln, die Gläser werden gehoben:„Stößchen!“
Auf Guardeloupe lässt sich der Unterschied zwischen den anderen armen karibischen Inseln und der EU erkennen. Guardeloupe ist französisch und dort haben alle Zähne, viele sind Künstler und verkaufen Handbemaltes. Vielleicht sollten karibische Inseln in die EU aufgenommen werden, so Kaminers Vorschlag, anstelle von Großbritannien.
Der Abend endet mit den vier Merkmalen des „Erwachsen-seins“:
1. Das Kind hat einen Leitzordner im Regal.
2. Das Interesse an billigem Fusel sinkt!
3. Kind isst Oliven!
4. Alte Träume landen im Keller!
Wladimir Kaminer hat dem Publikum einen amüsanten, spritzigen Abend bereitet und das Kulturforum Seesen e.V. hat ihn sicherlich nicht zum letzten Mal eingeladen.
Tanja Wöhle
Fotos: Antonio Mateo