Der Tisch mit den Gläsern voll Weißbier, Rotwein und Mineralwasser auf der Bühne beim Seesener Kulturforum lässt Stammtischgeplauder erwarten. Der Kabarettist Erwin Pelzig stellt sich dem Publikum. Der unscheinbare Typ mit Trachtenjacke, unverkennbarem Hut und unsinniger Herrenhandtasche am Schlauferl denkt zu Beginn an Altersdepression anlässlich des „Brandgeruchs eines herbeigetwitterten Krieges“. Aber sein Sprachtempo und sein Temperament im pausenlosen Argumentieren zeigen keine Spuren in jener Richtung. Pelzig verteidigt die grundgesetzliche Religionsfreiheit, auch für den Islam, gegen „die Trulla mit den toten Augen von London“ von der AfD. Er relativiert: „Schlichtes Denken ist nicht verboten“.
Die Nach-Wahlzeit ist noch nicht vergessen und an der Schwelle zur aktuellen Bundestagspolitik bekommt jede Partei ihr Fett weg. Da ist die Suche nach Charakter bei der FDP („Wie Phantomschmerz nach einer Amputation“), die SPD als Steigbügelhalter, denkend, sie sei das Pferd.
Aber auch Kaczynski, Orban und Seehofer, schließlich Erdogan, Trump und Putin sind Subjekte auf der aktuellen Palliativstation. Pelzig: „Ich fremdele mit dieser Zeit“, wie ruhig waren dagegen die Nachrichten vor 25 Jahren. Er fürchtet „die Internationale der Nationalisten“.
Romantische Flucht in die Vergangenheit lässt träumen à la Disney. Die Forderungen von Perspektivwechseln verdeutlicht Pelzig am solitären Stuhl auf der Bühne, abwechselnd besetzt vom Träumer (Disney), vom Kritiker und vom Realisten.
Eine gleiche Konstellation wird am Stammtisch deutlich. Der wortführende Dr. Göbel gebärdet sich schlau, der biertrinkende Hartmut bringt koddernd die eigene Realität ins Gespräch und der Pelzig-spielt-Pelzig-Typ rechts daneben bringt die Argumente der Aufklärung ein. Immer wieder wird Immanuel Kant zitierend bemüht als geistiger Gegenpol zu Hass und Wut in einer abstrus gesteuerten Welt zwischen Pegida und Rheinmetall und „wer ist das Volk?“ Pelzig zitiert auch André Gide: „Glaube denen, die die Wahrheit suchen …“ Diese Wahrheitssuche des Kabarettisten kommt beim Kulturforums-Publikum an, er fordert Querdenken und Perspektivwechsel, das ist mitreißend und ernüchternd, Satire pur und doch Bild der Realität, zwischen Fake und Tatsache, amüsant unterhaltend und doch auch anstrengend, bitter und faktenreich. Pelzig analysiert: „Schon als Bub wollte ich Wissenschaftler werden. … Naja, für Seesen reicht´s.“
Die Ökonomie der digitalen Welt, um fakes, facebook, Zuckerberg und Datenklau ist dominierendes Thema nach der Pause. Wo gibt es heute noch soziale Kontakte durch Aug-in-Aug-Blicke, nicht durch social media gestreut und vorgegaukelt. Der Realist Pelzig konstatiert: „Doch die Menschen sind nicht blöd!“ Die Aufklärung über die Tomaten-Produktionswege zwischen Italien und dem Tschad ist erkenntnisreich und weiter gedacht irrsinnig; das accelerando in Pelzigs hitziger Entscheidungsschlacht um den richtig gewählten Joghurt ist bewundernswert.
Die Ratschläge für Mensch und Publikum stützen sich zum Schluss noch einmal auf den großen Aufklärer Immanuel Kant. Dessen kategorischer Imperativ lässt den fast atemlosen Pelzig stottern und stolpern, und in gespielter Hilflosigkeit übersetzt er in verständliches Deutsch: „Er hat praktisch gesagt, man soll kein Arschloch sein.“ Pelzig hat in vielem Recht: Die Zielrichtung menschlichen Handelns wäre so einfach!
Das Publikum beim Seesener Kulturforum dankt mit lang anhaltendem Applaus.
Dr. Joachim Frassl