Seesen braucht keinen Karneval, die 5. Lachnacht schlägt alles um Längen.

Auch wenn es eine Ladies-Night war, startet die Lachnacht mit Ole Lehmann als einzigem Mann des Abends auf der Bühne. Die Stimmung im Saal ist von Anfang an heiter, Ole freut sich über die volle Hütte, die Kulturszene nimmt seit Beginn des Jahres wieder Fahrt auf. Aber trotz Corona gab es 2022 auch für ihn ein Highlight: Ole hat geheiratet. Mit 53 Jahren endlich runter von der Straße. Sein Mann und er hassen zwar Hochzeiten, vor allem aber wegen der Spielchen. Auf keinen Fall Schwanensee tanzende Männer im Tütü. Und die Entführung der Braut scheiterte daran, dass Onkel Karl nicht feststellen konnte, wer von den beiden nun diejenige sei. Glück gehabt.

Dagmar Schönleber, Kabarettistin und Musikerin aus Köln, tritt auf und bedankt sich für das gewährte Asyl am Karnevalssamstag. Grundlos fröhlich in Seesen – läuft! Sie widmet sich der Veränderung der Gesellschaft und ihrer eigenen gleich mit. Früher waren die Leute rücksichtsvoll und nett, sie auch. Seit sie altersmäßig ihre Schuhgröße überholt hat, spürt sie innerlich oft unmäßig aufsteigende Wut und unbändige Lust zur Belehrung. Hatespeech ist heute in aller Munde. Wie geht man um mit Hasskommentaren? Ignorieren oder sachlich kommentieren? Dagmar Schönleber kommentiert extrem unsachlich und am besten noch kitschig lyrisch. Zum Beispiel als Antwort auf gemeine Posts: Willst Du glücklich sein im Leben, trage bei zu andrer Glück, #trollsoflove #goethe. Und wenn der Account gesperrt wird, kein Problem, sie hat noch 253 weitere Troll-Profile. Wir müssen das Internet mit LOVE fluten. Love is in the netz! Love ist in the air! Die Musik von John Paul Joung mit einem Text der Künstlerin bringt das Publikum endgültig in Gang, Dagmar gibt alles, rockt die Bühne mit vollem Körpereinsatz, das Publikum tobt, Discofox in der Seesener Aula, was schert uns der Karneval.

Ole löst ab mit einem kleinen Exkurs in die pampige Berliner Sprüchekultur. Als Antwort auf die Frage, ob er noch einen Kaffee bekommen könnte, geht auch schon mal:“Wenn se hier Wasser reinlofen lassen würden, könnten ’se hier auch schwimmen.“

Ein fließender Übergang zu der Berliner Lebensberaterin Helene Mirscheid, die im Vollformat die Bühne übernimmt. Früher war sie Politikberaterin, aber das war sinnlos. Es war wie mit Eunuchen über Sex reden – letztendlich immer unbefriedigend. Helene trägt ein wallendes Leopardengewand. Früher war sie auch als Leopard 2 unterwegs, sie hat schon mit Olaf gesprochen wegen der Ukraine, aber eine Sinnhaftigkeit hat sich beiden nicht erschlossen. Nun schießt sie hier aus allen Rohren mit Worten in atemberaubender Frequenz und einer nicht zu überbietenden Trefferquote. Sie schießt auf naturbelassene Bioladenverkäuferinnen, die nicht an Deo glauben, auf Biowarenkäuferinnen, die ihre horrend teuren Einkäufe zum SUV tragen, auf die grüne Jugend, deren Proteste nur an der Stelle ‘verbindlich‘ sind, an der sie kleben und gegen Leute, die sich einbetonieren und so im schlimmsten Fall noch zu Pfeilern der Gesellschaft werden. Neulich hat eine junge grüne Aktivistin sie wegen ihres Leopardenmantels beschimpft. Helene:“Das ist doch nur ein Webpelz!“ Die Antwort: “Scheißegal, was für ein Tier … kein Tier darf dafür sterben!“ Wer hier im Saal kennt das Web? Ein Web, zwei Webs … Das kommt davon, wenn man freitags nicht in die Schule geht … Und Leute, wenn alles noch schlimmer wird, geht nach Hause, trinkt ein Glas oder vier, raucht etwas (es muss ja nicht Tabak sein) und dreht die Musik auf! Als perfekte Traumatherapie der Lebensberaterin Helene Mirscheid gibt es nur ein Mittel: Sex, Drugs & Rock ‘n Roll.

Nach der Pause wieder Ole: 30 Jahre steht er in diesem Jahr auf der Bühne. Angefangen hat alles mit dem geklauten Text „Die Rache“ von Jürgen v. d. Lippe, den dieser selbst bei einem Kollegen geklaut hat, wie sich nach Jahren herausstellte. Aber Ole ist auch ein Naturtalent, war immer schon sehr vorlaut, ist behaftet mit verbaler Inkontinenz und kann erst recht bei entsprechenden Vorlagen einfach nicht die Klappe halten. Ist also bestens gerüstet für den Job als Comedian!

Ganz anders Mia Pittroff, eine Fränkin aus Berlin. Wenn man bei ihr zu Hause in Franken ‚Grüß Gott‘ sagt, hat man schon das halbe Leben preisgegeben. Das ist zu wenig für ein abendfüllendes Programm, daher ihr Wechsel nach Berlin, der Hauptstadt des Sprechens. Ihr Tempo ist fränkisch gemütlich. Die Pointen werden sorgfältig gesetzt, man hat Zeit, diese zu genießen. Sie hat 2 Kinder. Deshalb steht sie auf der Bühne. Sonst kommt man abends ja nicht weg. Aber Kinder haben auch was Schönes, verändern den Blick auf so vieles. Verspätungen bei der Bahn zum Beispiel. Der Zug bleibt stehen auf freier Strecke. Die Mitreisenden ohne Kinder fangen an zu fluchen, die mit Kindern kriegen das Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht. Aber Mias Kinder sind super, die brauchen die Mama nicht die ganze Zeit – also analog. Sie haben ihr Tablett mit Mama App und sie finden den Avatar eh viel besser als das Original. Eingesprochene Standardsätze wie „Paula, zieh jetzt mal die Jacke an“ oder „Ja, das kann man alles essen, was da dran ist“ bringen die persönliche Note. Grad bringen sie sich selbst mit dem Tablett ins Bett, Elon Musk liest noch eine Gute-Nacht-Geschichte und Mama Mia kann sich dann per Kamera nachts vom Hotel aus zuschalten und bis zum Morgen die Atemgeräusche kontrollieren. Läuft. Nach Exkursen in die abnormen Entwicklungen von Jogginghosen zu Leggins während Corona, einem Prosecco auf Christian Drosten, weil der ja jetzt gar nicht mehr weiß, was er ohne Pandemie machen soll und einigen Anleitungen zum ständig nötigen Passworttausch folgt noch ein Lied für Jürgen und die Parksünder in seiner Einfahrt. Dramatischer Stoff, tolle Stimme und super Performance von Mia Pittroff.

Ole kam auch einst wie Mia allein nach Berlin. Er kaufte sich einen kleinen schwarzen Labrador und dachte, damit lernt man Männer kennen. Denkste. Wenn Frauen kleine Hunde sehen, schießt direkt die Milch ein. „Oh, bist Du süß! Was bist denn Du für einer?“ Dann zu Ole:“Und wer bist Du?“. „Ich – bin weg.“ sprach dieser und räumte auch sogleich die Bühne für den letzten Act des Abends.

Warmer Südwind, italienisches Temperament und eine Unmenge Energie fluten Bühne und Saal, Carmela di Feo alias La Signora stürmt nach vorn und der warme Wind entfaltet im Lauf ihrer Performance Orkanqualität. In ständigem Dialog mit den Zuschauern hebt sie den Seesener Musentempel mit zunehmendem Tempo aus den Angeln. Mit herbem Charme, schrillem, fast irrem Lachen, dann wieder flirtend mit tiefer Stimme philosophiert sie über die Liebe. Liebe ist wie eine Einbauküche, nach ein paar Jahren funktioniert sie nicht mehr und muss ausgetauscht werden. Positiv überrascht ist sie von den vielen Männern im Publikum. Aber den Damen muss sie leider mitteilen, dass das Männerwichteln heute aus pandemischen Gründen leider nicht stattfinden kann. Und überhaupt Jungs, wie seht ihr wieder aus! Zieht ihr wirklich immer das an, was Mutti euch zurechtlegt? Na ja, … Erst mal analysiert sie den Körper der Frau. Von oben bis zur Mitte erst Sehnsucht, dann Erwartungen und dann in der Mitte jede Menge Stauraum für enttäuschte Erwartungen. Dann die Beine. Beim Laufen können sie wieder jede Menge Kilos verlieren, aber das wird nichts. Tatsächlich verlieren sie nur den Schal und das Portemonnaie. Und überhaupt. Das Leben einer Frau bedeutet stetige Verwandlung. Männer können das nicht nachvollziehen. Bei ihnen gibts nur kleine Jungs, große Jungs und alte Männer. Bei Frauen ist das ganz anders. Erst Wonneproppen, dann Zicke, dann Hormone, dann Radiergummi, – na weil die Jungs fummeln wollen, – dann Mutter und wenn es ganz doll kommt, auch noch verheiratet. Da helfen nur Schnaps, Schokolade und Schlager. Schlager werden völlig unterschätzt, sie sind ein Geschenk des Himmels, sie sind die Apothekenumschau zum Anhören, die Lindenstraße zum Mitsummen. Schlager helfen in jeder Lebenslage, bei Liebeskummer, bei Trennung, bei Alkoholsucht, bei mangelnden Urlaubsgefühlen. Und dem Schlagergott sei Dank, die Andrea ist übern Berg und keiner muss mehr allein Klammerblues tanzen. Zur Musik von Ricchi e Poveris Lied Mamma Maria singt la Signora zum Abschluss eigenen Text, springt wie ein Flummi mit scheinbar unendlicher Energie über die Bühne, hüpft, kriecht und schüttelt, was das Zeug hält. Das Publikum hält es schon lange nicht mehr auf den Sitzen, es singt inbrünstig den Refrain, brüllt, trampelt mit den Füßen, klatscht und ist völlig aus dem Häuschen, die Aula kocht wie schon sehr lange nicht mehr. 

Standing Ovations  für vier große Damen des deutschen Kabaretts und natürlich für Ole. Im Oktober 2024 kommt die nächste Lachnacht nach Seesen. Eine lange Vorfreude, aber völlig zu Recht.

Heike Hammer-Geries

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